Wie anwendungsorientiert sollte Sozialpolitikforschung sein?
Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis sind sich größtenteils einig über sozialpolitische Herausforderungen. Sie haben aber unterschiedliche Erwartungen an deren Erforschung. In einer Interviewstudie mit Vertreter*innen beider Seiten sind DIFIS-Autor*innen diesen Perspektiven systematisch auf den Grund gegangen.
Die Sozialpolitikforschung in Deutschland steht vor komplexen Aufgaben. Sie soll nicht nur neue politische Konzepte und Reformmodelle entwickeln, bestehende Maßnahmen und Politikinstrumente evaluieren und Prognosen über zukünftige Entwicklungen abgeben (Althammer et al. 2021: 10–12). Sie soll auch den „Blick für große Zusammenhänge“ (Vobruba 2014: 256) wahren und abseits unmittelbarer Verwertungszwänge gesellschaftstheoretisch fundierte Analysen zu übergreifenden Entwicklungen liefern.
Wie gehen Wissenschaftler*innen, die zu sozialpolitisch relevanten Themen forschen, mit diesem Spannungsverhältnis um? Worin sehen sie die Aufgabe(n) und Rolle(n) der Sozialpolitikforschung für Politik und Gesellschaft? Und welche Erwartungen richten relevante Praxisakteur*innen an die Sozialpolitikforschung? In diesem Blogbeitrag möchte ich einige Antworten auf diese Fragen geben. Dafür greife ich auf Ergebnisse zurück, die meine Kolleg*innen Anna Hokema, Pia Jaeger, Philipp Langer, Rebecca Schrader, Nicole Vetter und ich jüngst im ersten Band der Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) veröffentlicht haben.
Unsere Befunde basieren auf Interviews mit rund 50 Expert*innen aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und öffentlicher Verwaltung, die wir in der Aufbauphase des DIFIS geführt haben. Wir wollten in Erfahrung bringen, welche sozialpolitisch relevanten Herausforderungen die Interviewten für besonders wichtig halten, wie sie den Stand und die Möglichkeiten der disziplinübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb der deutschen Sozialpolitikforschung einschätzen und wie es um den Wissenschaft-Praxis-Transfer im sozialpolitischen Gesamtfeld bestellt ist. Die Antworten der Expert*innen erlauben auch Rückschlüsse darauf, welche grundsätzlichen Erwartungen Wissenschaftler*innen und Praxisakteur*innen an die Sozialpolitikforschung richten.
Perspektiven auf sozialpolitische Herausforderungen
Über die grundsätzlichen Herausforderungen, vor denen die Sozialpolitik in Deutschland steht, sind sich die Interviewten in weiten Teilen einig. Der Fachkräftemangel, die Alterung der Gesellschaft, der Klimawandel sowie Herausforderungen in Folge von Migration, Bürokratie und der Fragmentierung des Sozialstaats sind nur einige der bekannten Schlagworte, die von den Befragten in diesem Zusammenhang genannt werden.
Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Wissenschafts- und Praxisakteur*innen oft je andere Perspektiven auf diese Herausforderungen einnehmen. So thematisieren die interviewten Praxisakteur*innen sozialpolitisch relevante Herausforderungen meist eher mit Blick auf deren konkrete und unmittelbare Bearbeitung: Wie können etwa die Einnahmen aus der CO2-Besteuerung möglichst effizient an die Bevölkerung rückverteilt werden? Oder: Wie können Kommunen bei der Bewältigung von Migrations- und Integrationsprozessen vor Ort unterstützt werden? Die Interviewpartner*innen aus der Wissenschaft nehmen hingegen häufiger (aber nicht ausschließlich) eine analytisch-abstrakte Perspektive ein. So geht es beispielsweise um die grundlegende Frage, ob und wie der Sozialstaat auch ohne Wirtschaftswachstum nachhaltig finanziert werden kann; oder um die Analyse der Genese und Verwendung bestimmter Begriffe und sozialer Kategorien.
Die Bedeutung einer praxisbezogenen Sozialpolitikforschung
Dieses Bild lässt sich weiter ausdifferenzieren. So sieht ein Großteil der interviewten Wissenschaftler*innen eine wichtige Funktion der Sozialpolitikforschung darin, grundlegende wissenschaftliche Analysen auch abseits unmittelbarer Praxisbezüge und Verwertungszwänge zu leisten. Hierzu gehören beispielsweise quantitative Untersuchungen mit großen, auch internationalen Datensätzen, theoretische Ausarbeitungen über gesellschaftliche Zusammenhänge oder Analysen historischer Entwicklungen mit sozialpolitischer Relevanz. Solche eher grundlagenorientierten Ansätze sind aus Sicht der interviewten Wissenschaftler*innen aber keinesfalls die einzigen relevanten Beiträge der Sozialpolitikforschung.
So betonen viele der Forschenden, dass sie im Zuge ihrer Tätigkeit dezidiert versuchen, Praxisbezüge mitzudenken und herzustellen. Das trifft einerseits auf Befunde und Formate zu, die explizit von Praxisakteur*innen angefragt werden und die damit per se bereits einen Praxisbezug aufweisen, zum Beispiel Gutachten, beauftragte Studien oder Kooperationsprojekte. Außerdem versuchen die Forschenden, grundlagenorientierte Arbeiten für die Praxis aufzubereiten, etwa in kürzeren und leichter zugänglichen Publikationsformaten wie Policy Briefs und Zeitungsartikeln oder im Rahmen von Workshops und Tagungen, an denen auch Praxisakteur*innen teilnehmen.
Ausschlaggebend für die Praxisorientierung der Forschenden sind einerseits externe Faktoren wie Förderstrukturen und institutionelle Anreize. Bei vielen unserer Interviewpartner*innen wird andererseits auch eine intrinsische Motivation dafür deutlich, Praxisbezüge ihrer Forschung herzustellen. Hierbei geht es neben dem Wunsch, die gesellschaftlichen Verhältnisse positiv zu beeinflussen, auch darum, ein besseres Verständnis des jeweiligen Untersuchungsgegenstands zu gewinnen. Wie es einer der Interviewten ausdrückt: „Manche Probleme können Sie ja gar nicht wirklich verstehen, wenn Sie sich nur im Raum der Wissenschaft bewegen“.
Insgesamt zeigt sich bei unseren Gesprächspartner*innen aus der Wissenschaft damit ein durchaus differenzierter Blick auf die Rollen der Sozialpolitikforschung. Dieser schließt sowohl eine eher abstrakt-analytische Sichtweise als auch politiknähere und anwendungsbezogene(re) Perspektiven ein.
Die Vertreter*innen aus Politik, Zivilgesellschaft und öffentlicher Verwaltung betonen demgegenüber sehr stark den Wunsch nach einer Sozialpolitikforschung, die eine unmittelbare Anwendungsnähe aufweist. Sozialpolitikforschung soll in diesem Verständnis vor allem dazu beitragen, Praxisakteur*innen bei ihren Entscheidungen zu unterstützen. Die Interviewten nennen hierfür verschiedene Beispiele, die von der Evaluation bestehender Gesetze, über die Entwicklung von Szenarien und Modellen für mögliche Politikreformen bis hin zu Formen der Kampagnenberatung für die Realisierung der eigenen politischen Ziele reichen. Die befragten Praxisvertreter*innen verneinen die grundsätzliche Bedeutung einer Sozialpolitikforschung, die ihren gesellschaftlichen Nutzen aus der Analyse übergreifender und mitunter abstrakt erscheinender Zusammenhänge zieht, zwar nicht. Grundlagenorientierte Befunde sind für die Praxisakteur*innen oft aber nur dann unmittelbar relevant, wenn damit die eigenen Argumentationslinien unterstützt werden (können).
Eine Person aus der öffentlichen Verwaltung bringt den handlungsorientierten Anspruch der Praxisakteur*innen an die Sozialpolitikforschung folgendermaßen auf den Punkt: „Die Lösungen müssen sich an den faktischen Problemen orientieren. Ich brauche nicht irgendwie ein Konstrukt, sondern ich brauche praktische Lösungen, die ich auch umsetzen kann, um einer Situation zu begegnen.“
Auch wenn dabei im Detail differenziert werden muss, beklagen zahlreiche unserer Gesprächspartner*innen aus der Praxis, dass die Sozialpolitikforschung insgesamt eine deutlich zu geringe unmittelbare Handlungsrelevanz aufweise. In diesem Zusammenhang wird eher die Wissenschaft in der Verantwortung gesehen, sich den Bedarfen und Logiken der sozialpolitischen Praxis anzunähern. Eine weitreichende systematische und integrierte Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis in Forschungszusammenhängen, die sich unter dem Begriff der Transdisziplinarität fassen lässt, wird von den Interviewten hingegen kaum erwähnt und als erstrebenswert erachtet. Zu sehr werden die unterschiedlichen Ansprüche, Bedarfe und Handlungsorientierungen von Wissenschaft und Praxis als Hemmnisse für systematische transdisziplinäre Zusammenarbeiten gesehen.
Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz
Die verschiedenen Erwartungen von Wissenschaft und Praxis überraschen angesichts ihrer jeweils unterschiedlichen Kernlogiken kaum. Problematisch wird der starke Fokus auf eine anwendungsnahe Sozialpolitikforschung aber, wenn die Wissenschaft als bloße Zulieferin für die Praxis ausschließlich daran gemessen wird, ob sie direkt verwertbare Ergebnisse produziert.
Die Sozialpolitikforschung muss sich stattdessen auf unterschiedliche Quellen der Legitimität stützen. Dazu gehören auch Forschungsfragen und -ergebnisse, die sich auf unmittelbar anwendungsbezogene Probleme richten und zu deren Lösung beitragen (sollen). Für die systematische Ausweitung praxisrelevanter Sozialpolitikforschung müssten innerhalb des Wissenschaftssystems aber stärkere Anreize in Form entsprechender Förderungen und Karrieremöglichkeiten geschaffen werden. So sind zwar einige Fachdisziplinen wie die Soziale Arbeit oder die Rechtswissenschaft durch vergleichsweise unmittelbare Praxisbezüge gekennzeichnet. In vielen anderen Disziplinen mit sozialpolitischer Relevanz sind die Förder- und Anreizstrukturen für anwendungsorientierte Forschung allerdings eher gering ausgeprägt.
Darüber hinaus liegt aber gerade in der Unabhängigkeit von unmittelbaren Verwertungszwängen eine wichtige Legitimitätsquelle der Sozialpolitikforschung. Nur wenn der Wissenschaft auch ein gewisses Maß an „Praxisferne“ zugestanden wird, kann sie Fragen aufwerfen und Entwicklungen analysieren, die über den tagespolitischen Betrieb hinausweisen. Die von uns geführten Interviews liefern Hinweise darauf, dass die gesellschaftliche Bedeutung einer nicht unmittelbar anwendungsbezogenen Sozialpolitikforschung stärker anerkannt werden sollte. Denn nur über ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz kann Sozialpolitikforschung auch in Zukunft gesellschaftliche und politische Relevanz für sich beanspruchen.
Literatur
Althammer, Jörg/Lampert, Heinz/Sommer, Maximilian (2021): Lehrbuch der Sozialpolitik. 10., vollständig überarbeitete Auflage. Berlin: Springer Gabler.
Vobruba, Georg (2014): Es gibt Ausnahmen. In: WSI-Mitteilungen, 67 (4), 256–256.
Tom Heilmann 2024, Wie anwendungsorientiert sollte Sozialpolitikforschung sein?, in: sozialpolitikblog, 26.09.2024, https://difis.org/blog/?blog=131 Zurück zur Übersicht
Tom Heilmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DIFIS. Er studierte Soziologie an den Universitäten Bremen, Duisburg-Essen und Warschau und arbeitet(e) am Institut Arbeit und Qualifikation an verschiedenen Forschungsprojekten in den Bereichen Arbeitsmarkt und soziale Sicherung.
Bildnachweis: DIFIS/eventfotograf.in
Tom Heilmann, Anna Hokema, Pia Jaeger, Philipp Langer, Rebecca Schrader, Nicole Vetter (2024): Sozialpolitik und Sozialpolitikforschung in Deutschland Campus, Frankfurt.